Wie verändert die Corona-Krise den Fachkräftemarkt?
Sigrit Walsdorff: Die Corona-Krise hat starke Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. In Deutschland waren im Juni mehr als 2,8 Millionen Arbeitslose gemeldet, ein Anstieg gegenüber dem Vorjahr um knapp 29 Prozent. Im industriegeprägten Baden-Württemberg war der Anstieg – ausgehend von einem niedrigeren Niveau – mit über 45 Prozent noch höher. Die Arbeitslosenquote ist in Deutschland von 4,9 Prozent im Juni 2019 auf 6,2 Prozent im Juni 2020 gestiegen, in Baden-Württemberg von 3,0 auf 4,4 Prozent. Gleichzeitig gibt es einen massiven Einsatz von Kurzarbeit, die den Arbeitsmarkt stabilisieren hilft. So wurde nach vorläufigen hochgerechneten Daten der Bundesagentur für Arbeit im April für 6,8 Millionen Arbeitnehmer konjunkturelles Kurzarbeitergeld gezahlt, nach 2,5 Millionen im März. Die Inanspruchnahme von Kurzarbeit lag damit weit über den Werten zur Zeit der großen Rezession 2008/2009.
Für die kommenden zwölf Monate ist mit einem weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit zu rechnen. Die IHK-Konjunkturumfrage im Frühsommer, an der rund 3.400 Industrie-, Handels- und Dienstleistungsunternehmen aus Baden-Württemberg teilgenommen haben, zeigt, dass fast 40 Prozent der Betriebe im Südwesten sich dazu gezwungen sehen, in den kommenden zwölf Monaten Personal abzubauen. Nur acht Prozent wollen Personal aufbauen.
Welche Branchen werden vermutlich im Laufe des Jahres am meisten Personal abbauen? Könnte dieses freie Potenzial eine Chance für andere Branchen darstellen, ihre offenen Stellen zu besetzen?
Walsdorff: Am meisten Personal abbauen will die Hotellerie und Gastronomie, gefolgt von Handel, Verkehr und Industrie. Nach der aktuellen IHK-Konjunkturumfrage in Baden-Württemberg wollen rund drei Viertel der Gastrobetriebe Personal abbauen, rund die Hälfte der Einzelhandelsbetriebe und der Unternehmen aus den Bereichen Verkehr, Lagerei, Reisewesen sowie knapp 40 Prozent der Industriebetriebe und der Großhandelsunternehmen. Etwas besser sieht es bei den Dienstleistern, noch besser beim Bau aus: Hier wollen lediglich ein Drittel bzw. ein knappes Viertel Personal abbauen.
Generell werden dadurch dem Arbeitsmarkt neben mehr Hilfskräften auch mehr gut qualifizierte Fachkräfte zur Verfügung stehen und die zum Teil sehr großen Fachkräfteengpässe in bestimmten Bereichen abgemildert werden. Wenig Entlastung wird es wohl bei den sehr begehrten IT-Fachkräften geben – sie werden weiterhin gefragt bleiben. In welchem Maße Unternehmen diese frei werdenden Fachkräftepotenziale nutzen können, wird auch daran liegen, in wie weit Betriebe und die Fachkräfte selbst bereit sind, in die Qualifizierung für die neuen Aufgaben zu investieren. Die Bundesregierung hat neue Fördermöglichkeiten für die Weiterbildung – auch während Kurzarbeit – bereitgestellt, die bei der Arbeitsagentur beantragt werden können.
Würden Sie Unternehmen in der aktuellen Situation trotz aller Unsicherheit empfehlen, Personal einzustellen?
Walsdorff: Den Unternehmen raten wir: Denken Sie bei der Personalbeschaffung, wenn es Ihnen möglich ist, längerfristig. Das Fachkräfteangebot wird aufgrund des demografischen Wandels immer weiter zurückgehen. Nach dem IHK-Fachkräftemonitor für Baden-Württemberg werden im Jahr 2030 über 700.000 Fachleute weniger zur Verfügung stehen als heute. Der Fachkräftemangel wird also zahlreiche Unternehmen nach der Krise wieder einholen. Die aktuellen Corona-Zeiten mit Kurzarbeit und Einstellungsstopps bieten die Möglichkeit, entgegen dem allgemeinen Trend zu rekrutieren und an die qualifizierten Fachkräfte zu gelangen, die ansonsten schwierig zu bekommen sind.
Wie kann der Einstellungs- und Einarbeitungsprozess auch in technischen und handwerklichen Berufen trotz Hygienemaßnahmen gelingen?
Walsdorff: Unternehmen probieren mit Blick auf digitale Möglichkeiten vieles aus wie digitale Vorstellungsgespräche oder den Austausch per Videokonferenz. Vielleicht können manche neuen Wege der Online-Rekrutierung, -Einarbeitung und -Zusammenarbeit auch künftig beibehalten werden.
Gerade in Bereichen von Produktion, Handwerk und personenbezogenen Dienstleistungen ist aber die Anwesenheit im Betrieb bzw. der direkte Kontakt zu den Kunden häufig notwendig. Hier gilt es, die Mitarbeiter/-innen gut aufzuklären und bestmöglich dabei zu unterstützen, die jeweils geltenden Hygiene- und Abstandsbestimmungen einzuhalten. Der persönliche Kontakt und viel Kommunikation – ob real oder virtuell – mit der direkten Führungskraft und/oder einer Patin oder einem Paten sind und bleiben gerade in der Einarbeitungsphase besonders wichtig – ebenso wie der Austausch mit dem Team.
Wie unterstützt die IHK auch während und nach der Corona-Krise Unternehmen dabei, Fachkräfte zu gewinnen?
Walsdorff: Wir stehen unseren Mitgliedsunternehmen mit einem breiten Angebot zur Seite. Telefonisch, per Internet und Newsletter oder in Veranstaltungen bieten wir Infos, Praxistipps und Erfahrungsaustausch an – in Zeiten von Corona mehr auf virtuellen Wegen. Auf dem Fachkräfteportal www.stuttgart.ihk.de/fachkraefte gibt es zahlreiche Anregungen zu den Themen Arbeitgebermarketing, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Aus- und Weiterbildung, Betriebliches Gesundheitsmanagement und vieles mehr. Wir stehen in engem Austausch mit anderen Arbeitsmarktakteuren und Fachkräfteallianzen und vermitteln hilfreiche Kontakte.
Im Vorteil ist, wer seinen Fachkräftenachwuchs selbst ausbildet. Die IHK ist der Partner der Unternehmen, wenn es um die duale Berufsausbildung geht. Wir unterstützen Ausbildungsbetriebe von der Azubivermittlung bis zur Abnahme der Zwischen- und Abschlussprüfungen. Bei Schwierigkeiten stehen wir Ausbildungsunternehmen und Azubis zur Seite. Attraktive Entwicklungsmöglichkeiten können Unternehmen ihren Mitarbeiter/-innen mit IHK-Fortbildungsabschlüssen und -Zertifikaten anbieten. Dazu informieren wir gern. Einen Überblick auch über berufsbegleitende Kurse und passgenaue Firmenseminare gibt das IHK-Weiterbildungs-Informations-System wis.ihk.de.
Was können Unternehmen selbst tun, um attraktiver für Fachkräfte zu werden, insbesondere kleine und mittelgroße Unternehmen jenseits der Ballungszentren?
Walsdorff: Unternehmen sollten sich auf jeden Fall Gedanken über ihre Attraktivität als Arbeitgeber machen. Das ist nicht nur wichtig, um an neue Fachkräfte zu kommen, sondern auch, um die Beschäftigten langfristig zu halten. Analog zum Produktmarketing kann man dazu Arbeitgebermarketing betreiben und sich so als attraktiver Arbeitgeber sichtbar machen. Grundlage ist eine ehrliche Standortbestimmung: Wo stehe ich, was sind meine Alleinstellungsmerkmale, wer sind meine Wettbewerber auf dem Arbeitsmarkt und wie ticken meine Zielgruppen? Was kann man den Mitarbeiter/-innen und potenziellen Bewerber/-innen bieten – etwa familienfreundliche Arbeits(zeit)modelle, altersgerechte Arbeitsbedingungen, Karriereperspektiven und Weiterbildungsmöglichkeiten, betriebliche Gesundheitsförderung oder eine vorbildliche Unternehmenskultur?
Kleine und mittlere Unternehmen können oft mit spezifischen Eigenschaften punkten, beispielweise mit kurzen Entscheidungswegen, Offenheit der Geschäftsleitung für Belange der Beschäftigten, einem familiären Betriebsklima oder der Möglichkeit für engagierte neue Mitarbeiter/-innen, rasch Verantwortung zu übernehmen. Wichtig sind auch weiche Faktoren wie gute Erreichbarkeit, günstige Wohnungspreise oder attraktive Freizeitmöglichkeiten vor Ort. Die Arbeitgebermarke sollte dann professionell und auf den richtigen Kanälen nach innen wie nach außen kommuniziert werden. Am besten ist es natürlich, wenn die eigenen Beschäftigten dabei zu „Markenbotschaftern“ werden. Wichtig ist: immer authentisch bleiben und regelmäßig überprüfen, ob man auf dem richtigen Weg ist.