Dr. Moritz Hämmerle ist Institutsdirektor am Fraunhofer IAO und Leiter des Forschungsbereichs „Cognitive Engineering and Production“. Er befasst sich unter anderem mit der Produktionsarbeit der Zukunft und ist überzeugt, dass auch die Caravaning-Branche besonders bei guter Marktlage von optimierten Herstellungsprozessen profitieren kann.
Vor welchen Herausforderungen steht die Caravaning-Branche in der aktuellen Krise?
Dr. Moritz Hämmerle: Die Caravaning-Branche ist eine breite Branche. Wir sprechen auf der einen Seite von Unternehmen, die in einer hohen Komplexität und Individualität Freizeitfahrzeuge herstellen. Auf der anderen Seite gibt es Dienstleister, die zum Beispiel Buchungsportale für solche Fahrzeuge anbieten, aber auch die Equipment-Hersteller. Da sind die Herausforderungen natürlich sehr unterschiedlich.
Anders als viele große Maschinenbauer, die wirtschaftlich gerade in einer sehr schwierigen Lage sind, erlebt die Caravaning-Branche aber eine »Corona-Sonderkonjunktur«. Reisebeschränkungen verlagern die Urlaubsplanung eher in die nähere Umgebung. Auch individualisierte Urlaubserlebnisse spielen eine größere Rolle. Der Markt läuft gut, wir hören von vollen Auftragsbüchern. Hier schlagen dann die üblichen Herausforderungen zu. Wenn es solch starke Marktschwankungen gibt – wenn man also erst wenig und dann plötzlich viel Auftragseingang hat –, besteht die Gefahr, mit der Produktion nicht mehr hinterherzukommen. Im laufenden Tagesgeschäft bleibt dann wenig Zeit, um besser und innovativer zu werden und über Neues nachzudenken.
Die Caravaning-Branche hat eine gefährliche Ausgangslage, wenn ich mir die Fabriken ansehe. Lean Management ist zwar kein Fremdwort mehr, aber es gibt noch viel Potenzial, mit klassischen Methoden der schlanken Produktion die Effizienz zu heben. Hinzu kommt, dass moderne Digitalisierung in vielen Betrieben noch gar nicht stattfindet. Da haben die Unternehmen noch einen weiten Weg zu gehen. Wichtig ist: Sie können gerade in dieser guten Marktlage handlungsfähig werden und nachhaltig für die Zukunft vorbauen.
Wie schaffen es produzierende Unternehmen, aus der jetzigen Krisensituation rauszukommen?
Dr. Hämmerle: Solche Krisen sind ja nichts Ungewöhnliches und es wird auch nicht die Letzte gewesen sein. Wenn man auf die letzten 50 bis 60 Jahre zurückblickt, kann man sagen, dass grob alle zehn Jahre eine Krise zugeschlagen hat, die riesige konjunkturelle Auswirkungen auf die Unternehmen hatte. Seien es Corona, Lehman Brothers mit der Bankenkrise oder die Dotcom-Blase, die auch ein Loch in die deutsche Wirtschaft gerissen hat.
Trotzdem ist es für Unternehmen jetzt wichtig, resilient zu werden und die Fähigkeit zu entwickeln, auch gegen solche großen Disruptionen bestehen zu können. Das beinhaltet zwei Dinge: mit dem Kurzfristigen umgehen zu können, also Chaos-Handling. Das bedeutet, Bewältigungsmaßnahmen zu aktivieren, um die Liquidität im Unternehmen und auch den Nachschub an Bauteilen, gerade aus Asien, sicherzustellen. Man muss die Produzierfähigkeit weiterhin gewährleisten.
Auf der anderen Seite sollten sich Unternehmen überlegen, wie sie in einem mittelfristigen Zeitraum anders und besser werden können. Wie kann ich mich als Unternehmen durch die Krise entwickeln, sichererer werden, vorbereiteter sein? Dafür gibt es drei Ansätze, die man verfolgen kann. Innovation und Kundenfokus sind dabei die übergeordneten Werte. Im Produktkontext bedeutet das Folgendes: Wie kann das Produkt so interessant werden, dass uns die nächste Krise nicht so stark trifft und wir auch besser aus der jetzigen rauskommen? Im Hinblick auf die Produktionsprozesse muss man sich folgende Frage stellen: Wie können wir diese Prozesse, die im Betrieb ablaufen und die zur Herstellung der Produkte beitragen, so effizient machen, dass wir nicht mehr so krisenanfällig sind? Dass wir Kosten gut zurückfahren können? Und ganz langfristig müssen wir uns auch die Frage stellen, wie das Geschäftsmodell dazu aussieht. Ist das Verkaufen von Freizeitfahrzeugen beispielsweise der letzte Schluss oder haben wir noch andere Ideen? Können wir das mit digital basierten Geschäftsmodellen garnieren? Das wird ganz wichtig!
Wie unterstützt das Fraunhofer IAO in der Krise? Wie kann es als Schnittstelle zwischen angewandter Forschung und Industrie die Caravaning-Branche insbesondere dabei unterstützen, resilienter zu werden?
Dr. Hämmerle: Fraunhofer macht zunächst mal angewandte Forschung. Das hört sich abstrakt an, teilweise auch ein bisschen abschreckend für Unternehmen, die ganz konkrete Fragestellungen haben. Aber das Franhofer IAO ist dafür bekannt, sehr angewandt und industriebasiert unterwegs zu sein. Wir haben ein großes Spektrum an Leistungsangeboten im Portfolio, mit denen wir Unternehmen unterstützen. Wir bieten sehr konkrete und direkte Beratung an. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass wir eine extreme Systematik, eine wissenschaftliche Basis und ausgereifte, aber maßgeschneiderte Methoden bereitstellen, die man am Markt sonst nicht findet und die tief erprobt sind. Das ist eine sehr erfolgreiche Kombination, die immer wieder zu tollen neuen Lösungen führt.
Auf der anderen Seite sind wir auch eine Art Ökosystem-Organisator. Das Fraunhofer IAO hat eine ganze Reihe an Arbeitskreisen, in denen auf einer operativen Ebene verschiedene betriebliche Probleme zwischen Unternehmen und dem Fraunhofer IAO diskutiert und gelöst werden. Wir haben aber auch größere Innovationsnetzwerke, in denen man sich auch mal innerhalb von zwei Jahren neuen Themen grundsätzlich nähert, wie der Industrie 4.0. Unternehmen profitieren sowohl im Netzwerk als auch von unserer Expertise. Ich glaube, das ist eine schöne Mischung aus Lösungen für ganz konkrete betriebliche Bedarfe und einem Dranbleiben an Innovationen, am Besserwerden. Denn in Unternehmen können Einzelinitiativen schnell wieder versanden. Unsere Innovationsnetzwerke führen dazu, konstant und fokussiert am Thema dranzubleiben.
Welche Lösungen bietet das Fraunhofer IAO konkret für Produktionsprozesse in der Caravaning-Branche?
Dr. Hämmerle: Wir bieten konkrete Beratungsansätze und innovative Lösungshilfen. Wir unterstützen die Betriebe der Branche auf dem Weg, aus der Corona-Zeit in Richtung neue Normalität aufzubrechen, und begleiten diesen Transformationsprozess. Gerne erarbeiten wir gemeinsam, was Unternehmen jetzt ganz spezifisch tun können, um besser zu werden. Das fängt ganz pragmatisch zum Beispiel bei der Frage an: Wie kriegt man mehr Flexibilisierung in die Fabrik, um diese Marktschwankungen, die im Caravaning-Bereich sehr ausgeprägt sind, effizient und attraktiv abzudecken? Hier können wir unsere Expertise einbringen. Wir beraten seit Jahren Unternehmen und gestalten mit ihnen neue Lösungen für einen flexiblen Personaleinsatz, der Spaß macht und Wettbewerbsvorteile schafft.
Wir unterstützen aber auch beim Thema Digitalisierung. Als Betrieb muss man den Weg durch den »Dschungel« der Digitalisierung erst mal kennenlernen. Mit unserem Produktionsassessment 4.0 haben wir seit Jahren eine zielgerichtete Methodik entwickelt, die es Unternehmen ermöglicht, gemeinsam mit uns passende Digitalisierungslösungen für die Produktion zu finden.
Die Caravaning-Industrie beschäftigt sich auch immer mit der Gewichtsthematik. Wie schwer ist mein Fahrzeug? Wie schwer sind die Bauteile? Hier ist additive Fertigung ein interessantes Thema. Auf der anderen Seite spielen auch Assistenzsysteme im Herstellungsprozess eine immer größere Rolle. In der Caravaning-Industrie gibt es eine hohe Variantenvielfalt, weil jedes Fahrzeug zu einem gewissen Grad anders ist. Assistenzsysteme können helfen, diese Unterschiedlichkeit qualitativ hochwertig abzusichern.
Zum Schluss wollen wir noch eine Einladung aussprechen: Mit dem Future Work Lab haben wir in Stuttgart das größte Innovationslabor für Produktionsarbeit und Digitalisierung Deutschlands. Dort haben wir über 50 Anwendungen der Industrie 4.0 realisiert. Gern laden wir die Betriebe der Caravaning-Branche ein, vorbeizukommen, sich hier zu informieren und einfach mal zu erleben, was Digitalisierung in der Fabrik heute schon kann. Vielleicht ist das auch ein schöner Kontaktpunkt, um mal wieder mit oder ohne Maske gemeinsam zu sprechen. Man kann auch virtuell einen kleinen Vorgeschmack auf unser Labor gewinnen. Im Projekt FutureWork360 haben wir unser Future Work Lab mithilfe eines Digitalen Zwillings erlebbar gemacht, sodass man unser Labor auch orts- und zeitunabhängig besuchen kann.