Reisemobile und Caravans stehen unter hohen Bäumen, die sich leise nur im Wind wiegen. Auf der Koppel neben dem weitläufigen Wiesengelände grasen Pferde von Wanderreitern. Die haben ihre Zelte aufgeschlagen. Die Szenerie verströmt Ruhe. Kein Wunder: Die Anlage befindet sich an einem Ort, den angeblich schon Germanen besiedelt haben. Womöglich huldigten die grauen Vorfahren hier einst in einem Tempel der Frühlingsgöttin Ostara. Heute stehen hier, wie profan, Wasch- und Gästehaus, aber auch ein Restaurant. Campingplatz Domäne heißt dieses Refugium zwischen Stiege und Hasselfelde im Ostharz.
Tatsächlich deutet der Name darauf hin, dass die heutigen Gebäude in ihrer langen Geschichte als Gutshof dienten samt Nebengebäuden und Gesindehaus. Das Flair von Jahrhunderten ist noch immer spürbar. Von der Domäne aus ist die drei Kilometer entfernte Westernstadt Pullman City in Hasselfelde über einen Wanderweg gut zu erreichen.
Nichts gegen den Wilden Westen im Ostharz: Eine deutlich ruhigere Sehenswürdigkeit lockt am anderen Ortsrand von Stiege, wiederum drei Kilometer entfernt: In dem knapp 1.100 Einwohner zählenden Teil der erst 2010 zusammengeschlossenen Stadt Oberharz am Brocken im Landkreis Harz, Sachsen-Anhalt, steht eine Stabkirche. Dass dieses im norwegischen Drachenstil erbaute Gotteshaus erst seit kurzem hier ihren Platz gefunden hat, obwohl sie schon 1904 erbaut wurde, ist erstaunlich. Wenngleich die Geschichte dahinter eher nachdenklich stimmen mag. Schließlich stand die Stabkirche mehr als 116 Jahre im Selketal neben der Lungenheilstätte Albrechtshaus.
Gestiftet haben soll sie ein von Tuberkulose genesener Patient aus Skandinavien. Am 20. Mai 1905 wurde sie geweiht – immerhin unter den Augen von Prinzregent Albrecht von Braunschweig. Doch die Zeit der Wertschätzung endete 1993 jäh, als die Heilstätte schloss. Zunehmend wurde die Stabkirche Ziel von Vandalismus. Alle historischen Fenster, einst von Glasmaler Ferdinand Müller aus dem nicht allzu weit entfernten Quedlinburg kunst- und liebevoll hergestellt, fielen sinnloser Gewalt zum Opfer.
Um weitere Schäden abzuwenden, wurden Fenster- und Türen fest verschlossen. Im August 2013 zündeten vermutlich Brandstifter das Albrechtshaus an. Doch die nur wenige Meter danebenstehende Kapelle blieb unbeschädigt. Weitere göttliche Fügung: Der Förderverein zur Umsetzung und Instandsetzung der Stieger Stabkirche gründete sich im Dezember 2014. Mittlerweile zählt der daraus hervorgegangene Stabkirche Stiege e. V. 160 Mitglieder. Sie schafften es, das Kirchlein zum Denkmal von nationaler Bedeutung zu erheben – was den Weg zum Förderprogramm ebnete. Es floss Geld.
Das wurde dringend gebraucht: Die Stabkirche sollte einen sicheren Platz bekommen – nahe dem Bahnhof Stiege der Harzer Schmalspurbahn, sieben Kilometer von dem bisherigen Standort entfernt. Im November 2020 erfolgte der erste Spatenstich, ab 1. März 2021 wurde die Stabkirche abgebaut. Gleichzeitig entstand in Stiege eine Werkhalle, die das kostbare Gebäude samt Inventar im nordischen Stil vor Regen und Kälte schützte. Schließlich ist die Stabkirche Stiege hierzulande der einzige erhaltene Sakralbau dessen Innenkonstruktion ohne Nägel und Schrauben auskommt.
Sie ist 23 Meter lang, elf Meter breit und ohne Glockenturm neun Meter hoch. Der Kirchenraum birgt 110 Sitzplätze. Das Richtfest fand am 13. August 2021 statt, die feierliche Einweihung am 20. Mai 2022 – 117 Jahre nach der ersten Weihe. Und heute erstrahlt die Stabkirche Stiege mit ihren Drachenköpfen in altem Glanz unübersehbar unter hohen Bäumen, die sich leise nur im Wind wiegen.
Infobox
Campingplatz Domäne
Campingplatz Domäne, Domäne 1, 38899 Stiege, Tel.: 039459/70333, www.domaene-stiege.de